Mindestlohn mit zahlreichen Ausnahmen
Hurra! Der Mindestlohn ist da. Hurra?
Mindestlohn mit zahlreichen Ausnahmeregelungen. Leistung der Zustellerinnen und Zusteller missachtet. Praktische Fragen im Betrieb
Acht Jahre kreißte der Berg, und ein Löhnchen erblickte das Licht der Welt.
Als die Gewerkschaften 2006 zum ersten Mal einen Mindestlohn von € 7,50, seit 2010 dann von € 8,50 gefordert haben, war das noch ein Betrag, der gerade so zum Leben reichen konnte. Inzwischen sind Löhne und Preise gestiegen. Heute wird selbst ein Vollzeitbeschäftigter mit Mindestlohn netto in vielen Fällen unter ALG 2 liegen.
Eine Vielzahl von Ausnahmen durchlöchert den Anspruch auf Mindestlohn. Mag man bei Pflichtpraktika von Schülern und Studenten noch Verständnis haben, ist die generelle Herausnahme von „Langzeit-Arbeitslosen“ und Jugendlichen eine „Fürsorge“ des Staates, auf die die Betroffenen gern verzichten könnten, und öffnet dem Missbrauch durch Unternehmer Tür und Tor.
Mag man Übergangsregelungen, die für einzelne Branchen in Tarifverträgen zwischen beiden Tarifparteien ausgehandelt werden, noch tolerieren, ist die gesetzlich garantierte Ausnahme für eine einzige Branche, die Zeitungszustellung, nichts anderes als das Ergebnis eines unverschämten Lobbyismus der Zeitungsverleger, vor dem die Politik (wieder einmal) eingeknickt ist. Wenn eine Branche und ihr Verband noch nicht einmal willens oder fähig ist, einen von ver.di angebotenen Tarifvertrag abzuschließen, wie das andere Branchen und ihre Verbände selbstverständlich getan haben, welchen Grund hat dann die Politik, dieses ignorante Verhalten durch eine gesetzliche Ausnahmeregelung für eine einzige Branche auch noch abzusegnen?
Dabei geht es nicht allein um ein paar Euro Stundenlohn. Es geht auch um die Missachtung der Leistung und der Würde von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Nacht für Nacht jahraus jahrein auch bei Dunkelheit, Regen, Schnee und Eis ihre Arbeit machen – eine Arbeit, die nach Erhebungen der Berufsgenossenschaften zu den am meisten unfallgefährdeten Tätigkeiten überhaupt gehört. Die Zeitungszustellerinnen und -zusteller sind fassungslos und wütend, wenn es in der Begründung des Gesetzes heißt:
Die Zustellung ist notwendige Bedingung für das Funktionieren der durch Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes geschützten freien Presse. Die verlässliche Trägerzustellung von Zeitungen und Zeitschriften am Tag ihres Erscheinens an den Endkunden ist eine wesentliche Säule für den Vertrieb dieser Printprodukte.
Das soll die Begründung dafür sein, dass die Leistung dieser Berufsgruppe als einziger schlechter zu behandeln ist als die aller anderen und dass dafür nicht einmal wie bei allen anderen ein Tarifvertrag erforderlich sein soll?
Was ist, gemessen an diesem Maßstab eigentlich von denjenigen Verlegern zu halten, die in den letzten Jahren durch Aufspaltungen und Ausgliederungen der Zustellung in tariflose, betriebsratsfreie Sub- und Sub-Sub-Unternehmen die Löhne soweit gesenkt haben, dass heute für ganze Regionen keine Zeitungsträger mehr gefunden werden, dass Stellen nicht besetzt sind und dadurch die zuverlässige und pünktliche Zustellung akut gefährdet ist? Welchen Dienst erweisen sie der Pressefreiheit und dem Grundgesetz? Egal – Hauptsache, die Lobby in Berlin funktioniert noch reibungslos!
Praktische Fragen zum Mindestlohn
Der abgesenkte Unter-Mindestlohn für die Zeitungszustellung liegt 2015 bei € 6,38 und 2016 bei € 7,23. Er gilt – und darauf wird zu achten sein – für Personen, die folgender Definition entsprechen:
Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller ... sind Personen, die in einem Arbeitsverhältnis ausschließlich periodische Zeitungen oder Zeitschriften an Endkunden zustellen; dies umfasst auch Zustellerinnen und Zusteller von Anzeigenblättern mit redaktionellem Inhalt.
Wenn Juristen „ausschließlich“ schreiben, dann müssen sie auch „ausschließlich“ meinen, oder? Das bedeutet: Für alle, die neben ihren Zeitungen auch Briefe oder andere personalisierte Produkte zustellen oder die zusammen mit den Zeitungen gelegentlich Wurfsendungen an Resthaushalte verteilen, gilt die Ausnahme nicht, und es ist für ihre gesamte Arbeit der gesetzliche Mindestlohn anzuwenden.
Das große Problem, das in der betrieblichen Praxis zu lösen sein wird, ist die Ermittlung des Zeitlohns aus dem jetzt gezahlten Stücklohn. Selbstverständlich wird nicht derjenige, der am längsten braucht, den höchsten und der Schnellste den niedrigsten Lohn beanspruchen können. Alles wird davon abhängen, was als „Normalleistung“ unter durchschnittlichen Bedingungen des jeweiligen Zustellbezirks außerhalb wie innerhalb der Grundstücke und Häuser, im Sommer wie im Winter bei Benutzung des geeignetsten Transportmittels (Karren, Fahrrad, Auto) usw. festgelegt wird. Jeder Bezirk und jede Tour wird zu bewerten sein. Dabei hat der Betriebsrat weitgehende Mitbestimmungsrechte, und der Arbeitgeber kann das nicht ohne den Betriebsrat festlegen. Das gilt natürlich nur, wenn von den Zustellerinnen und Zustellern ein Betriebsrat gewählt worden ist.
Liegt der auf diese Weise berechnete Zeitlohn unter dem Mindestlohn, egal ob € 8,50 oder zunächst € 6,38 gelten, muss der Lohn erhöht werden – entweder durch die Anpassung des Stücklohns oder durch eine Aufzahlung des Unterschiedsbetrags auf den Stunden- bzw. Monatslohn.
Um übrigens Missverständnissen vorzubeugen: Ein Mindestlohn ist ein Mindestlohn und kein Höchstlohn und kein Einheitslohn. Alle Zustellerinnen und Zusteller – und das sind gar nicht so wenige –, die heute mehr als € 8,50 pro Stunde bezahlt bekommen, behalten selbstverständlich ihren höheren Lohn.
Wer Fragen zum Mindestlohngesetz hat, wer erkannt hat, dass spätestens jetzt ein Betriebsrat gewählt werden muss, weil das Bestehen eines Betriebsrats sich unmittelbar im Geldbeutel bemerkbar macht, wer begriffen hat, dass er oder sie allein auf sich gestellt dem Arbeitgeber gegenüber in der schwächeren Position ist und Gewerkschaftsmitglied werden möchte, der sollte sich an sein ver.di-Bezirksbüro wenden. Auch bei einer Anfrage über unsere Kontaktadresse helfen wir gern weiter.