Seit 2015 gibt es in Deutschland den Mindestlohn. Gestartet wurde er mit € 8,50 in der Stunde. Für die Zustellerinnen und Zusteller gab’s allerdings damals nur € 6,37 – ein Erfolg der massiven Einflussnahme der Zeitungsverleger auf Bundesregierung und Bundestag. Das ist mittlerweile Geschichte. Inzwischen sind wir bei € 10,45, im Oktober 2022 soll der beschlossene Sprung auf € 12,- erfolgen. Die Klagen der Verleger über „untragbare Kostensteigerungen“ werden lauter – und die Versuche, Sonderregelungen oder besondere Subventionen für die Zeitungszustellung zu bekommen, drängender werden.
Was aber ist tatsächlich geschehen? Die Erhöhungen seit 2015 von € 6,37 auf € demnächst € 12,- summieren sich auf stolze 88 Prozent.
Vielfältige Formen, die Löhne zu drücken
Doch wieviel ist davon bei den Zustellerinnen und Zustellern angekommen? Wir müssen genau hinschauen. Zuvor hat es natürlich Zustellgesellschaften gegeben, in denen bis 2015 Hungerlöhne von weniger als € 6,- in der Stunde gezahlt worden waren. Für die davon betroffenen Kolleginnen und Kollegen hat der Mindestlohn tatsächlich eine spürbare Erhöhung gebracht. Auf der anderen Seite gab es aber immer auch Zustellgesellschaften und -bezirke, in denen der bis dahin übliche Stücklohn realistisch umgerechnet weit höhere Stundenlöhne erbracht hatte. Die wurden nach 2015 in der Regel bei der Neubesetzung von Bezirken, durch Änderung von Bezirksgrenzen oder mit Hilfe direkter Lohnsenkungen zügig abgebaut. Aus dem Mindestlohn wurde flugs ein Normal- oder gar ein Höchstlohn. Gleichzeitig wurde fast flächendeckend der Nachtzuschlag – zumindest bei Neueinstellungen – von vorher meist 25 Prozent auf 10 Prozent gekürzt, wenn er nicht gleich ganz gestrichen wurde. Dem hat das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung von 2018, gerade aktuell 2022 nochmal bestätigt, einen Riegel vorgeschoben: Auch in der Zeitungszustellung sind 30 Prozent angemessen im Sinne des ArbZG, was allerdings Nachtarbeit von mehr als zwei Stunden Dauer voraussetzt. Damit bietet sich eine weitere Möglichkeit zur Lohnsenkung: die Verkleinerung der Bezirke auf Zustellzeiten unter zwei Stunden mit Entlohnung ohne Nachtzuschlag.
„Bezirksoptimierung“ durch Einsatz technischer Systeme
Auch die Entlohnungssysteme selbst werden genutzt, um die Lohnkosten trotz steigendem Mindestlohn zu drücken. Das fängt bei der Erfassung und Dokumentation der Arbeitszeiten an. Man könnte ja annehmen, dass dies – wie in anderen Betrieben üblich – durch die Zeiterfassung am Beginn der Tätigkeit, z.B. an der Abladestelle, und an deren Ende am letzten Briefkasten oder bei der Rückkehr zum Ausgangspunkt erfolgt. Weit gefehlt! Zusteller galten und gelten vielen Arbeitgeber als unsichere Kantonisten (um nichts noch Schlimmeres anzunehmen), die mit allen erlaubten und manchen unerlaubten Mitteln zu „erziehen“ und zu kontrollieren sind. Deshalb wurden und werden umfangreiche (und übrigens ziemlich teure) Systeme angeschafft und eingesetzt, die der „Bezirksoptimierung“ dienen, d.h. die Laufwege des Zustellers verkürzen sollen. Anfangs führte das zu allerlei Kuriosem wie brückenlosen Kanälen auf dem Zustellweg, von Pollern versperrten Zufahrtswegen und dergleichen. Aber mit zunehmender Anwendung wurden viele der „Kinderkrankheiten“ ausgemerzt.
Allerdings ist selbst eine korrekte Erfassung der Wege noch lange keine Vorgabe der Arbeitszeit. Dazu ist erst einmal zu klären, was alles zur Arbeitszeit gehört: Neben der Wegezeit auf den Straßen gehören dazu z.B. die Zeiten für den Zugang zu den Gebäuden bis zum Briefkasten, die Steckzeiten, Aus-, Umpack- und Sortierzeiten, Zeiten für das Lesen und Ausfüllen von Laufzetteln, für die Beseitigung des Verpackungsmülls, das Instandhalten erforderlicher Verkehrs- und Transportmittel u.v.m. Und da sprechen wir noch gar nicht von in den Systemen nicht erfassten Steigungen und Gefällen, den Einflüssen der Witterung, zeitweiligen Hindernissen wie Baustellen oder Umleitungen oder persönlichen Mobilitätseinschränkungen. Für all das sind entsprechende „Parameter“ festzulegen, die diesen Tätigkeiten und Bedingungen eine durchschnittliche Zeitdauer zuordnen. Dabei gibt es natürlich erhebliche „Ermessensspielräume“, die von den Arbeitgebern und ihren Verbänden und Beratern gern in Anspruch genommen wurden und werden. Denn: Je kürzer die jeweilige Zeitvorgabe, desto geringer die Arbeitszeit, desto niedriger der für die Zustellung zu zahlende Zeitlohn. Wo Betriebsräte gewählt sind, müssen darüber Betriebsvereinbarungen abgeschlossen werden, die meist das Schlimmste verhindert haben, aber in den vielen Betrieben ohne Betriebsrat entscheidet der Arbeitgeber alleine.
Angesichts all dieser Unzulänglichkeiten wird in der Branche gerade ein neuer Trend ausgerufen: der Einsatz von GPS-gestützten Trackingsystemen. Damit sollen die Orte, an denen sich der Zusteller oder die Zustellerin aufhält, zu jedem Zeitpunkt der Zustelltour erfasst werden. Abgesehen davon, dass damit zwar Verzögerungen oder Unterbrechungen auf der Tour, nicht aber deren Ursachen erfasst werden können, stellt das die lückenlose Überwachung des Verhaltens und der Leistung der Zustellerinnen und Zusteller dar. Der Arbeitgeber erhält dadurch Informationen, die weit über das für die Zeiterfassung Erforderliche hinausreichen. Selbstverständlich ist das alles mitbestimmungspflichtig (wenn es denn einen Betriebsrat gibt). Aber wir sind der Meinung, das verletzt auch Persönlichkeitsrechte und die Würde des arbeitenden Menschen und sollte daher verhindert oder eingeschränkt werden, wo immer es möglich ist.
Es geht um die Zukunft der Zeitung
Die Rechtslage zum Mindestlohn weist eigentlich einen einfachen Weg, um den richtigen Lohn zu ermitteln. Mit dem Mindestlohn zu bezahlen ist nämlich immer die tatsächlich geleistete Arbeit. Das bedeutet: Wenn es Abweichungen zwischen der vorgegebenen und der tatsächlichen Arbeitszeit gibt, kann der Zusteller diese dokumentieren und dem Arbeitgeber mitteilen; er muss dann die gemeldete Zeit – ggf. nach Einschaltung des Betriebsrats und eines Schiedsverfahrens – auch bezahlt bekommen. Wozu dann aber der ganze Aufwand? Sehr einfach: Nach aller Erfahrung verzichten rund 80 Prozent der Zustellerinnen und Zusteller, sei es aus Scham, sei es aus Angst oder um „keinen Ärger zu bekommen“ auf die Meldung einer Abweichung – zum eigenen Nachteil und zum Vorteil des Arbeitgebers. Noch einmal: Um die für die Lohnfindung erforderliche Zeit zu ermitteln und zu dokumentieren, reicht ein Blick auf die Uhr am Anfang der Tätigkeit und an ihrem Ende. Alles Weitere ist überflüssig, beruht auf Misstrauen gegenüber den Kolleginnen und Kollegen und dient anderen – oft nicht einmal offen erklärten – Zwecken und Interessen.
Bei all dem ist es nicht verwunderlich, dass die Zustellgesellschaften zunehmend Schwierigkeiten haben, neue Beschäftigte zu gewinnen. Nachtarbeit im Freien bei Wind und Wetter ohne ordentliche Zuschläge gegen Jobs im Warmen und Trockenen zum selben Mindestlohn, explodierende Spritpreise bei auf höchstens 30 Cent eingefrorenem Kilometergeld zur Benutzung des eigenen Fahrzeugs, immer noch unzulängliche Ausstattung mit Wetterkleidung, Schuhwerk und Sicherheitsausrüstung: da fällt manchem die Entscheidung nicht schwer. Die Folge: Rechtzeitige Zustellung der Zeitung am frühen Morgen ist in vielen Regionen schon mehr die Ausnahme als die Regel. Dabei läuft den Verlegern die Zeit davon: Abo-Kündigungen nehmen zu, die digitalen Erlöse steigen allenfalls mit bescheidenen Raten und gleichen die Rückgänge beim gedruckten Produkt nicht annähernd aus… Wenn die Zeitung noch eine Zukunft haben soll, dann sind dringend neue (Geschäfts-)Ideen gefragt statt stupider Kostensenkung – überall in der Zeitungsproduktion, aber auch und gerade in der Zustellung!
2015:
Der Bundestag hat zwar am 3.7.2014 einen gesetzlichen Mindestlohn beschlossen, der jedoch nicht für ZustellerInnen gilt. Im 1. Jahr darf er um 25% (6,375 €) und im 2. Jahr um 15% (7,225 €) unterschritten werden. Genauere Informationen und die Entwicklung zu dieser Entscheidung stehen in den verschiedenen Texten unten, bzw im Archiv
Ältere Artikel über den Mindestlohn finden Sie unter: Service in Archiv/Mindestlohn