Im November trafen sich 28 Kolleg:Innen aus 19 verschiedenen Zustellgesellschaften und Verlagen zu Seminarbesuch und Erfahrungsaustausch im Bildungszentrum Gladenbach. Neben vielen bekannten Gesichtern konnten die Seminarleiter Josef Haverkamp und Thomas Meyer-Fries auch drei Erstbesucher:Innen begrüßen und zwei neue Betriebe in die Liste mit aufnehmen.
Berichte aus den Betrieben
Ein Kernpunkt eines jeden Zustellerseminars sind die Berichte aus den verschiedenen Gesellschaften. Personalmangel zieht sich durch fast alle Betriebe, viele Beschäftigte müssen immer mehr Bezirke und Vertretungen übernehmen, was zu teils hohen Belastungen führt. Obwohl es in den meisten Betrieben mit der Umsetzung des Mindestlohns mittlerweile mehr oder weniger gut klappt, wird immer noch vielerorts Druck ausgeübt, um die Zeiten und damit die Lohnkosten zu senken. Zusätzliche Prämien oder Gewährung des steuerfreien Inflationsausgleichs sind die Ausnahme. Auch die Problematik durch die hohen Benzinpreise in Verbindung mit der Steuerfreigrenze von 30 Cent pro Kilometer, was in der Regel kaum die Spritkosten deckt, ist allgegenwärtig.
Branchendaten und Entwicklungen im Tageszeitungsbereich
Josef Haverkamp hat die wichtigen Daten aus der IVW-Datenbank aufbereitet und präsentiert Auflagen und Veränderungen wirtschaftlicher Eckdaten. Der Rückgang der Abozahlen hat sich im letzten Jahr stark verschärft. Im nord- und ostdeutschen Bereich haben fast alle Verlage mit zweistelligen Verlusten zu kämpfen. In Hamburg hat nun die erste Tageszeitung die Einstellung angekündigt und wird ab 2024 nur noch wöchentlich und digital erscheinen.
Im Rhein-Main-Bereich und im Süden sind die Rückgänge nicht ganz so dramatisch, doch selbst in Bayern gibt es kaum noch Verlage mit weniger als fünf Prozent Schwund bei den Abos.
Die Auflagen digitaler Medienprodukte steigen zwar an, können die hohen Verluste aber bei weitem nicht kompensieren. Ausnahme hierbei sind die überregionalen Zeitungen, wo mittlerweile ein erheblicher Anteil der Erlöse aus digitalen Erlösen generiert wird. Diese Zeitungen machen in Summe aber deutlich weniger als zehn Prozent aller Tageszeitungsabos aus.
Das Verhältnis von Vertriebserlösen zu Werbeeinnahmen, welches vor 25 Jahren noch bei 1:2 lag und sich bis vor fünf Jahren sukzessive auf 2:1 umgedreht hat, liegt mittlerweile bei 3:1. Bisher konnten die gesunkenen Werbegelder und Abozahlen durch Erhöhungen des Abopreises halbwegs kompensiert werden. Diese Strategie stößt nun an ihre Grenzen, da weitere Preissteigerungen zu höheren Kündigungsraten führen und die gedruckte Zeitung vor allem für viele niedrig Verdienende zu teuer wird.
Immer mehr Kündigungen haben neben den hohen Abogebühren und der freien Verfügbarkeit von Informationen im Internet ihre Ursache in den redaktionellen Inhalten. Durch Zusammenlegung von Titeln und Redaktionen leidet die Vielfalt der medialen Landschaft. Zudem werden immer mehr Lokalredaktionen geschlossen, wodurch sich vor allem viele Landbewohner nicht mehr angesprochen fühlen.
Aufschlüsselung der Kostenstrukturen
Thomas hat die Aufteilung der einzelnen Kostenpunkte Verwaltung, Zustellung/Vertrieb, Anzeigen, Technik, Redaktion, Druck und Papierkosten in Zeitungsverlagen im Verlauf der letzten drei Jahre zusammengestellt und aufbereitet. Gestiegen sind die Papierkosten und die Aufwendungen für Vertrieb/Zustellung. Gespart wurde auch an den Redaktionen. Dies erscheint unverständlich, da dieser Bereich vergleichsweise wenig zu den Kosten beiträgt, aber für die Qualität des Produkts und auch für die Wertigkeit des guten Namens entscheidend ist und Kürzungen hier viel Schaden anrichten.
Möglichkeiten der staatlichen Förderung für Zeitungsverlage
Nachdem ein Versuch der finanziellen Unterstützung der Verlage aus dem Staatshaushalt bereits gescheitert ist, nimmt das BMWK einen neuen Anlauf und hat eine Studie zur Möglichkeit der Förderung in dieser Branche in Auftrag gegeben. Deren Ergebnis besagt, dass dies sowohl nach deutschem als auch nach EU-Recht bei entsprechender Ausgestaltung durchaus möglich wäre. Verteilkriterien wären neben einem Mindeststandard an redaktionellen Inhalten im Produkt unter anderem Nutzung bestehender Zustellstrukturen, Versorgung ländlicher Gegenden mit niedriger Haushaltsabdeckung. Dies würde z.B. Wochenblätter und überregionale Zeitungen ausschließen. Letztlich müssten dazu aber die Verleger ihre Zahlen offenbaren, was diese jedoch scheuen.
(Anmerkung nach Abschluss des Seminars: Inzwischen hat der Bundestag in den Beratungen für den Haushalt 2024 die Zustellförderung gestrichen.)
Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat und Konzernbetriebsrat
Thomas erläutert die strukturellen und betriebsverfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Bildung eines Gesamt- bzw. Konzernbetriebsrats. Drei Punkte verhindern in vielen Fällen die Bildung eines Konzernbetriebsrats. Zum einen erhalten viele Betriebsräte keine oder zu wenige Informationen über die Konzernstruktur. Außerdem sind viele Firmenkonstrukte so verflochten, dass auch Fachleute scheitern, die Voraussetzungen für einen KBR rechtssicher darzulegen. Größtes Problem sind jedoch die Vertretungsquoten, welche zur KBR-Bildung notwendig sind. Von oben werden bei Erreichung der Quoten die Konzernstrukturen so angepasst, dass die Bildung nicht mehr möglich ist. In den meisten Fällen wird die Quote aufgrund fehlender Betriebsräte in größeren Betrieben nicht erreicht. Vor allem in den personell starken Verteilgesellschaften der Wochenblätter gibt es in den seltensten Fällen Arbeitnehmervertretungen, was die Bildung von KBRs häufig unmöglich macht.
Arbeitsrecht mit Gerda Reichel
Am Mittwoch verstärkte die Fachanwältin für Arbeitsrecht Gerda Reichel die Seminarleitung. Die schwierigen Themenkomplexe Betriebsänderung, Interessenausgleich und Sozialplan werden aufgeschlüsselt. Eine Betriebsänderung liegt vor, wenn gewisse Voraussetzungen bei Stilllegung, Personalabbau, Verlegung wesentlicher Betriebsteile, Zusammenschluss oder Spaltung, Änderung von Betriebsorganisation oder -zweck oder Einführung neuer Arbeitsmethoden erfüllt sind. Für Betriebsänderungen gibt es je nach Betriebsgröße unterschiedliche Quoten von betroffenen Arbeitnehmern. Der Betriebsrat hat hierbei ein Informationsrecht, welches die Arbeitgeber leider häufig vernachlässigen.
Beim Interessenausgleich ist eine Übereinkunft zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat nötig. Diese kann durch eine Einigungsstelle ersetzt werden; diese hat allerdings keine bindende Spruchkompetenz. Klassische Inhalte sind Regelungen zu Zeitraum, Kündigungen, Versetzungen, Wiedereinstellungen, Qualifikationsmaßnahmen und in aller Regel ein Überstundenverbot.
Für den Betriebsrat sind die Punkte Sozialauswahl, Auswahlrichtlinien und Wahl der arbeitsrechtlichen Mittel relevant; hier greifen die entsprechenden Paragraphen des BetrVG.
Beim Auftreten wirtschaftlicher Nachteile ist ein Sozialplan das Mittel der Wahl zu Milderung oder Ausgleich der auftretenden Benachteiligungen. Entsprechend einer Betriebsvereinbarung schafft dieser Ansprüche in Verhandlungen zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Betriebsrat. Auch hier kann die Einigungsstelle angerufen werden. Diese hat hier zudem Spruchkompetenz; vor dem Arbeitsgericht kann deren Spruch nur auf Verfahrensfehler oder Ermessensüberschreitung geprüft werden.
Anhand aktueller Urteile werden praxisnahe Hintergründe und Tipps an die Teilnehmer vermittelt.
Anschließend werden arbeitsrechtliche Fragen aus dem Teilnehmerfeld behandelt; folgende Themen wurden angesprochen:
Sicherheitsunterweisung Zusteller - wie gestalten? Reicht ein Flyer?
Seminarkosten - Grundlage ist Freistellung, wie viele Stunden werden abgerechnet?
Wird die Anreisezeit bezahlt und wie viel Freizeitausgleich für wen?
Gemeinsames Zustellen von (Ehe-)Partnern - wie kann das im Hinblick auf Anmeldung, Versicherungsschutz und Mindestlohn rechtssicher gestaltet werden?
AU-Meldung in der Nacht - unverzügliche Meldung erforderlich, welche Meldewege gibt der Arbeitgeber vor? Bei diesen hat der BR Mitbestimmungsrecht! Betriebs-vereinbarung zur Meldung AU? Neue Meldewege und Abläufe durch eAU?
Privatfahrzeuge als Arbeitsmittel - Kilometergeld und Zuschüsse? Lieferando-Urteil!
Lohnabrechnung online - geht das? Ja - aber nur mit gewissen Voraussetzungen. Juristische Formulierung eindeutig, wie das zu gestalten ist; LAG Hamm 2Sa179/21
Arbeitssicherheit und Sicherheitskleidung/-utensilien mit Stefan Bast
Stefan stellte die bei der Zustellung verwendeten Arbeitsschuhe vor. Es gibt zwei verschiedene Modelle zur Wahl, einmal leichtere Halbschuhe und einmal halbhohe gefütterte Stiefel. Regenfeste Jacken werden ebenfalls gestellt.
Die Zusteller:Innen bekommen Notfallkarten mit Notrufnummern, Angabe des Betriebes und der BG mit und haben immer ein Handy dabei, um auch bei schweren Unfällen einen Notruf absetzen zu können.
Eine Vorlage für die Sicherheitsunterweisung und -belehrung wurde vorgestellt und diskutiert. Die Sicherheitsinfos und -flyer der Berufsgenossenschaften sind für die Sicherheitsunterweisung und -belehrung meist gut geeignet.
Auch auf der Zusteller-Website von ver.di gibt es Infos und Unterlagen für Betriebsräte und Zusteller:Innen; die Anwesenden werden aufgerufen, Inhalte zu liefern.
Betriebsversammlung - Einladung, Gestaltung und Ablauf
Die Rechtsgrundlagen zur Betriebsversammlung finden sich im §43 des BetrVG. Diese sind vom BR verpflichtend einmal im Vierteljahr abzuhalten. Vorteil ist, schon in der Einladung aktuelle und brennende Themen direkt aufzuführen und nicht nur eine allgemeine Tagesordnung aufzustellen. Auch der Hinweis auf Verpflegung sowie Vergütung von Anwesenheit, Fahrzeit und Kilometergeld ist der Attraktivität zuträglich. Weitere Maßnahmen, niedrige Teilnahmezahlen aufgrund mangelnden Belegschaftsbewusstseins zu erhöhen, werden aus den einzelnen Betrieben vorgestellt. Die zeitliche Ansetzung ist häufig ein Problem, da viele potentielle Teilnehmer noch einer anderen Beschäftigung nachgehen und so verhindert sind.
Urlaub - Anspruch, Grundsätze und Planung
Grundlegend wird das Thema vom BetrVG §87 Abs. 1 Nr. 5 formuliert; der Betriebsrat hat hier ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht. In mehreren Betrieben existiert eine Betriebsvereinbarung dazu; diese ist allgemein sinnvoll, um Grundsätze wie z.B. Termine für die Einreichung allgemein festzuschreiben. Bei Schwerbehinderten ist zudem die SBV mit einzubinden, da hier zusätzliche Ansprüche bestehen. Die Spannbreite der Gewährung bei den einzelnen Gesellschaften ist groß und liegt zwischen dem gesetzlichen Mindestanspruch von 24 Tagen und bis zu 34 Tagen pro Jahr.
Sozialrecht - Änderungen und Neuerungen von Harry Linhart
Leider sind viele Beschäftigte in der Zustellung zusätzlich auf staatliche Leistungen nach den SGBs angewiesen, da die auf Mindestlohn basierenden Einkünfte oft nicht zur Deckung der Lebenshaltungskosten reichen. Harry Linhart erläutert die Änderungen bei den Regelsätzen ab 1.1.2024. Diese sind nach Alter und Lebensstand gestaffelt. Wird Arbeitseinkommen erzielt, welches den Grundbedarf nicht deckt, gibt es zusätzliche Freibeträge, welche ebenfalls gestaffelt sind. Anhand von Praxisbeispielen werden verschiedene Konstellationen durchgerechnet. Im Ergebnis lohnt sich Arbeit bei Bezug von Sozialleistungen in allen Beispielen durchaus; die populistischen Aussagen diverser Parteien, Lobbys und Politiker dazu können anhand dieser Argumente entkräftet werden.
Auch die Minijob-Grenze ändert sich auf 538 Euro; diese wird nun dynamisch an das Wachstum des Mindestlohns angepasst. Für Erwerbsminderungsrenten gibt es auch zeitliche Schranken für Arbeitsleistung, welche dringend einzuhalten sind.
Bei Fragen und Problemen kann man sich als Betriebsrat oder Betroffener über die Teilhabeberatung informieren, auch online unter www.teilhabeberatung.de . Unter www.betanet.de lassen sich sozialrechtliche Begriffe und Informationen nachschlagen.
Fragen aus dem Teilnehmerfeld
Zum Abschluss beantworten die Seminarleiter vorab gestellte Fragen zu folgenden Themen:
- Arbeitszeiterfassung - gilt bereits, aber letztlich keine neuen Erkenntnisse
- Apps - verschiedene Anbieter mit unterschiedlichen Fähigkeiten der Pakete.
- Vor- und Nachteile der Apps wurden vorgestellt und diskutiert.
- Sicherheitsbeauftragter und BEM-Verfahren
- Inflationsausgleich - wird nur in sehr wenigen Betrieben gewährt
Es war wieder mal ein informatives Branchenseminar für Betriebsräte und Schwerbehindertenvertretungen in der Zeitungszustellung.