19.06. bis 24.06.2022
Erneut trafen sich 30 Betriebsräte und Schwerbehindertenvertretungen ( SBV ) in unserem ersten Branchenseminar 2022 für Zeitungszusteller, um ihre betrieblichen
Situationen zu erklären und in einer grossen Runde auszutauschen. Auch für uns waren Coronamomente aktuell und drei Teilnehmer mussten krankheitsbedingt absagen.
Nach einer ausführlichen Firmenvorstellung und neuen Betriebsberichten stellte sich erneut unter Beweis, wie gern Zeitungsverlage Veränderungen einleiten, - natürlich nicht immer unter Einbindung ihrer rechtszeitigen Informationspflicht. Es scheint noch immer nicht selbsverständlich, was eine vertrauensvolle Zusammenarbeit überhaupt bedeuten kann. Unter dem steigenden Kostendruck der Papierbeschaffung, den gestiegenen Mindestlöhnen 1.1.22 ( 9,82 Euro), 1.7.22 ( 10,45 Euro), 1.10.22 ( 12,00 Euro ) ist nicht jeder Verlag imstande, undurchsichtige Lohnverfahren erklären zu können. Natürlich setzt eine faire Entlohnungsmethode eine korrekte Arbeitszeiterfassung voraus und schon unterscheiden sich die Geister.
Hinzu kommt eine politische Situation mit einer drastischen Kraftstofferhöhung, wobei selbst 0,30 Euro pro km die tatsächlichen Kosten der Kollegen in der Zustellung nicht mehr abdecken. Es ist fast unausweichlich, Konzepte und unternehmerische Entscheidungen zu unterstützen, die auch in Zukunft bei schleichendem Kundenverlust Arbeitsabläufe zu optimieren und ggf. auch Fremdobjekte mit in dieZustellung aufzunehmen. Natürlich erfolgt in der besonderen Situation eine gesteigerte psychische Belastung, Zusatzrouten, km-Aufwände, Dunkelheit inmitten der Nacht. Hierbei darf ein Betriebsrat nicht auf seine Handlungsmöglichkeiten verzichten, selbstverständlich unter dem Aspekt der Arbeitszeit und Schutzgesetzen. Selbst völlig neue Umstände, wie Extremwetter erfordern eine völlig neue Sichtweise, um Menschenleben weder zu gefährden, noch Mitarbeiter zu verlieren, die ihre Aufgaben nicht mehr leisten können. Es wird tendenziell immer schwieriger, dauerhaft Mitarbeiter zu finden, die sich auch ohne Einarbeitungszuschläge oder Mehrarbeitsvergütungen an uns binden. Sogar Wetterschutzkleidungen, wie Thermoschutz oder regenabweisende Kleidung sind bis heute k e i n e Selbstverständlichkeit.
Unter der Erhöhung des Mindestlohnes, keine Unterschreitung statthaft, sind nicht mehr viele Möglichkeiten vorhanden, die Parameter zur Festlegung eines Lohnes zu verändern. Somit wird es unabdingbar sein, ein Augenmerk auf die Arbeitszeiterfassung zu haben. Hr.Meyer-Fries erklärte uns das EuGH-Urteil mit der Pflicht der Arbeitszeiterfassung. Die Lösungen werden noch immer umgangen, sogar mit grundlegend schlechten technischen Möglichkeiten. Hierbei bleiben der Wert einer Mitbestimmung oder einer sachgemäßen Schulung unausweichlich, wenn die Zeiterfassung nicht einseitig angeordnet werden soll.
Sogar der Gesetzgeber, so im Zwischenbericht unseres Kollegen Harry Linhart, stehen Erhöhungen in der Minijobgrenze auf 520 Euro an. Im Gegenzug sollte natürlich auch die Hürde der eingeschränkten Verdienstoption bei einer Erwerbsminderung vorliegen. Hierbei scheint der Gesetzgeber aber noch nicht soweit zu sein. Unser Kollege definiert die Hinzuverdienstspannen in geleiseter Arbeitszeit, und dieser Rahmen ist bereits auf 15 Stunden pro Woche begrenzt.Darüber hinaus erreichen Kollegen zwar nicht ihre Zeitvorgaben, ihre Verdienstgrenzen müssten jedoch noch angepasst werden.
Ein anderes Thema waren die prekären Arbeitsverhältnisse mit ihren Aufstockungen zur Erreichung der Grundsicherung. Es ist spöttisch, dass der Staat auf jene Beschäftigungen zum Zeitpunkt der Verrentung Millionen Euro darauf zahlen muss, was in Beschäftigungszeiten unternehmerisch nicht möglich gewesen sein soll. Wieviel Selbstbehalt stehen bei einer Hartz 4 Situation an, wie erfolgt wann die Umbenennung zum Bürgergeld, usw.
Sehr aufschlussreich war auch der Arbeitsbesuch der ReA Gerda Reichel aus der Kanzlei CNH-Anwälte Essen. In verständlicher Form versuchte sie uns ihr Fachwissen zu vermitteln, wie erfinderisch Umfirmierungen und Zusammenschlüsse ausgelegt werden. Das Ziel ist es zumeist, Verwaltungsapparate zu minimieren, Kosten zu senken. Selbst der "Entzug des Zustellauftrages" ist plötzlich ein Begriff. In Wirklichkeit geht es darum, Betriebsänderungen zu verschleiern und die Beteiligungsrechte von Betriebsräten zu umgehen. Es liegt auf der Hand, dass ein ausgehandelter Sozialplan vermieden werden soll. Hier wirken sich die ständigen Neugründungen von logistischen Unternehmerstrukturen nicht immer vorteilhaft für die Arbeitnehmer aus.
Unser Referent Josef Haverkamp informierte uns über die fortlaufende Reduzierung des Zeitungslesermarktes und den Möglichkeiten, diese mithilfe des Internets einordnen zu können ( z.B. IVW ). Welche Funktionen stehen in welchen Bereichen an, wie schleppend läuft die sogenannte Digitalisierung. Es ist leicht einzuordnen, wie Zusammenschlüsse und Auflagenbekanntmachungen im totalen Gegensatz zur Schickler Studie stehen. Hier werden in utopischer Weise Zielsetzungen von 30% angesetzt, die bis heute aber im Durchschnitt kaum 5% betragen.
Hierzu konnte uns Herr Thomas Meyer-Fries erklären, jene widersprüchlichen Aussagen zu bewerten.
Sehr unterschiedlich waren auch die Höhen des gesetzlichen Urlaubsanspruches, der in einem Fall sogar bei 32 Tagen lag. Hier ist die Branche durch das Nichtvorhandensein eines Tarifvertrages mehr als benachteiligt ( 24 Tage pro Jahr bei einer 6-Tage Woche ) Das entspricht noch immer eines Bundesurlaubsgesetzes von 1963 (!), fast historisch. Wer wundert sich denn dann, keine Mtarbeiter zu finden? Bereits heute sind Verlage nicht imstande, Bezirke zu besetzen und noch zweifelhaftere Modelle stellen den Service am Kunden ein, indem sie keine Zeitungen mehr nachliefern lassen. Unter einer Service Dienstleistung unter dem Aspekt einer Wertschätzung bei ständig steigenden Abo-Preisen eine absurde Strategie.
Hans-Jürgen Schlarp